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Events Calendar

Tagung einiger SGS-Forschungskomitees zum Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Forschung und Praxis
From Friday, 29. October 2010
To Saturday, 30. October 2010
Eine Tagung der SGS-Forschungskomitees „Soziale Probleme“, „Gesundheitssoziologie“ und „Interpretative Sozialforschung“

Pädagogische Hochschule Thurgau
Kreuzlingen 29. - 30. Oktober 2010

Call for Papers

Zum Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Forschung und Praxis:
(Des-)Orientierungswissen?

Wissenschaft sieht sich zunehmend mit der Erwartung konfrontiert, gesellschaftlich und öko-
nomisch nützlich zu sein. Die Geistes- und Sozialwissenschaften, die unter besonderem Legi-
timationsdruck stehen, berufen sich in dieser Hinsicht gerne darauf, "Orientierungswissen" zu
stiften. Diese Behauptung hat jedoch ihre Tücken, denen wir in dieser Tagung nachgehen wol-
len.
In einer idealtypischen Bestimmung bestehen Aufgabe und Wert sozialwissenschaftli-
cher Forschung darin, gesellschaftlich etablierte Praktiken und Routinen einer Durchleuchtung
und Problematisierung zu unterziehen, auch wenn diese den Praktikerinnen und Praktikern
selbst als bestens bewährt und deshalb gar nicht problematisierungsbedürftig erscheinen. Um
dieser Aufgabe nachkommen zu können, ist die sozialwissenschaftliche Forschung gegenüber
anderen Praktiken in mehrfacher Hinsicht privilegiert. Erstens handelt es sich bei ihr um eine
unpraktische Tätigkeit in dem Sinn, dass sie von Zwängen zur Intervention weitgehend entla-
stet ist. Aus dem was sie rekonstruiert, erschliesst, freilegt, entdeckt oder benennt, erwächst für sie selbst unmittelbar kein Handlungs- oder Entscheidungsdruck. Zweitens ist sozialwissen-
schaftliche Forschung insofern privilegiert, als sie weniger an Vereinfachungen als an einer
Steigerung der Komplexität interessiert sein darf. Während in praktischen Handlungsfeldern
wie Bildung, Gesundheit, Sozialarbeit, Recht etc. Entscheidungs- und Handlungszwänge unter
Zeitdruck und infolge Funktionsanforderungen für deren den professionellen Alltag konstitutiv
sind, kann die sozialwissenschaftliche Forschung genau das Gegenteil bedeuten: Sie rekon-
struiert Entscheidungs- und Handlungsprobleme in ihrer ganzen Komplexität; sie benennt pa-
radoxe Effekte; sie übt technische Kritik an eingeschliffenen und vermeintlich bewährten Routi-
nen; sie verweist auf Zielkonflikte, die mit der Entscheidung für bestimmte Praktiken verbunden
sein können; sie stellt Widersprüchlichkeiten dar, in denen Praktikerinnen und Praktiker stehen;
sie benennt die Bedingungen für einen erfolgversprechenden Handlungsvollzug; sie macht
implizites Wissen explizit und dadurch einer Kritik zugänglich; sie blickt auf die Hinterbühnen
organisatorischer und beruflicher Praxis. Kurzum: Sozialwissenschaftliche Forschung führt den
Beforschten unter Umständen vor Augen, dass ihre Praxis voraussetzungsreicher, riskanter
und komplexer ist, als sie es sich selber normalerweise vergegenwärtigen. Um den beforschten
Feldern der Praxis also ein Orientierungswissen zur Verfügung stellen zu können wird sozial-
wissenschaftliche Forschung in einem ersten Schritt paradoxerweise Desorientierung erzeugen
(müssen?). Dies kann ihr freilich nur gelingen, wenn ihr drittens die Begünstigung zugestanden
wird, gegenüber spezifischen Interessen und Erwartungen seitens der beforschten Felder di-
stanziert und weitgehend immun zu sein.

Das Dilemma von Orientierungsversprechen und Erzeugung von Desorientierung be-
trifft jede sozialwissenschaftliche Forschung. Es spitzt sich insofern zu, als ein Grossteil sozi-
alwissenschaftlicher Forschung mittlerweile nicht mehr direkt durch Hochschulen oder For-
schungsförderungseinrichtungen finanziert wird, die sich von ihrer Konstitution her dem Grund-
satz der Autonomie wissenschaftlicher Forschung verpflichtet sehen, sondern im weitesten
Sinne Konzepten wie Auftragsforschung, praxisorientierte Forschung, ‚Modus 2 der Wissens-
produktion’ u.ä. entspricht. Forschende sehen sich in diesen Kontexten mit Erwartungen und
Realitäten konfrontiert, die vom skizzierten Idealtypus sozialwissenschaftlicher Forschung er-
heblich abweichen können und in denen die Praxis nicht mehr nur ‚Objekt’, sondern auch ‚Sub-
jekt’ der Forschung wird.

Die Tagung will eine Gelegenheit bieten, sich über Erfahrungen im Verhältnis von Forschung
und Praxis auszutauschen. Dabei können auftretende Komplikationen, Konfusionen und Trans-
formationen dieses Verhältnisses entweder exemplarisch an Fallstudien belegt, oder analytisch
bestimmt werden. Folgende Leitfragen sollen helfen, das Thema zu konturieren.

Was erwartet die Praxis von der Forschung und die Forschung von der Praxis?
Erwünscht sind Beiträge, in denen Auftraggeber, Finanzierer, Praxispartner, Forschende
oder Beforschte ihre Erwartungen ausformulieren. Ebenso sind Beiträge vorgesehen, in
denen die Erwartungen der Praxis wissenschaftlich rekonstruiert, charakterisiert, typisiert
oder problematisiert werden.

Welche Selbstverständnisse und Selbstpositionierungen finden sich bei Forschenden?
Die Beiträge können auf die Bestimmung von Differenzen im Selbstverständnis als For-
scherin, Consultant, wissenschaftlicher Begleiter, Analysedienstleister, Expertin, Evaluator
usw. abzielen. Sie können sich aber auch mit der Frage befassen, mittels welcher Prozedu-
ren, Techniken und Inszenierungen sich in Forschungsprozessen „Nützlichkeit“ oder „An-
wendungsorientierung“ herstellen und zur Geltung bringen lassen.

Welche Probleme ergeben sich im Spannungsfeld von Forschungsfreiheit und finanzieller Abhängigkeit?
Die Beiträge können sich z.B. mit der Frage befassen, ob finanzielle Abhängigkeit und wis-
senschaftliche Forschung sich nicht ausschliessen. Auch spezifische Herausforderungen
an die Forschenden im Hinblick auf Darstellung und Veröffentlichung in diesem Zusam-
menhang interessieren hier.

Sind mit unterschiedlichen methodischen Designs unterschiedliche Problemstellungen im
Verhältnis von Forschung und Praxis verbunden?
Von Interesse ist hier insbesondere, ob sich qualitativ Forschende mit anderen (welchen?)
Schwierigkeiten konfrontiert sehen als quantitativ arbeitende Forscherinnen und Forscher.

Woran bemisst sich die Validität insbesondere angewandter Forschung?
Sind die Befunde dann valide, wenn der Auftraggeber oder die Beforschten damit zufrieden
sind?

Was geschieht mit den Befunden angewandter sozialwissenschaftlicher Forschung?
Wie fliessen sie – diese allenfalls transformierend – in welche Praxis ein? Wie kommt es
zur „Umsetzung“, „Anwendung“ oder „Implementierung“ von Forschungsbefunden, und
welchen Beitrag können und/oder müssen Forschende dazu leisten?

Interessierte schicken bitte ein einseitiges Abstract in deutscher, französischer oder englischer
Sprache (ca. 1500 – 2000 Zeichen) mit den Angaben zur Kontaktadresse bis zum
7. Mai 2010 an die Mitglieder des Organisationskomitees.

Organisationskomitee:
Eva Nadai, FHNW Hochschule für Soziale Arbeit, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Peter Schallberger, FHS St. Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Christoph Maeder, Pädagogische Hochschule Thurgau, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Julie Page, Departement Gesundheit, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen-
schaften, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Location Pädagogische Hochschule Thurgau, Kreuzlingen